Ein Beitrag für die Augsburger Blog-Parade
Manchmal behaupte ich gern: „Ich war schon im Internet, da war es noch schwarz-weiß.“ Aber das ist natürlich Unsinn. Erstens waren die Pioniere des Usenet mit grün-schwarzen Monitoren unterwegs, und zweitens kämpfte ich Anfang der Neunziger noch mit der rudimentären Textverarbeitung auf einem Atari ST. Ich war Student, neu in Augsburg und wohnte in zwei Zimmern ohne Bad im „Problemviertel“ Oberhausen. Geld für einen Telefonanschluss hatte ich nicht, geschweige denn für einen Akustik-Koppler. Mein ganzer Stolz war ein gebraucht gekaufter 24-Nadel-Drucker, auf dem ich meine Semesterarbeiten in Entwurfsqualität ausdruckte, um Farbbänder zu sparen.
Mitte der Neunziger unternahm ich dann die ersten Streifzüge im World Wide Web. Wobei dem Begriff „Streifzüge“ ein in diesem Zusammenhang unzutreffender Hauch von flotter Geschmeidigkeit anhaftet: In Wahrheit waren es beschwerliche Wanderungen mit einem 56-k-Modem. Sie endeten allzu oft auf Webseiten, deren einziger Inhalt ein „Under Construction“-Schild war. Mein erster Zugang lief über einen Augsburger Computer-Club. Als Netz-Lotse diente mir eine Suchmaschine im experimentellen Stadium namens MetaGer. Die stand weit weg von Augsburg in einer Hannoveraner Hochschule, und Google gab es noch gar nicht.
Die ersten Blogs waren eine Enttäuschung
Mit MetaGer entdeckte ich die ersten Weblogs. Die Idee faszinierte mich sofort. Vor meinem Studium hatte ich eine Ausbildung zum Zeitungsredakteur abgeschlossen, den publizistischen Anschluss in Augsburg aber irgendwie verpasst. Mit der neuen Technik war es offenbar möglich, frei von Produktionskosten weltweit unabhängig zu veröffentlichen.
Anfang des neuen Jahrtausends schossen Blog-Provider wie Pilze aus dem Boden des World Wide Web. Das juckte den Viel- und Gerne-Schreiber in mir schon ganz gewaltig. Aber was für eine Enttäuschung: Die meisten Blogs, auf die ich stieß, waren Tagebücher im wörtlichen Sinne. Vor allem Teenager ließen sich weltweit über ihre unverständigen Eltern aus und bejammerten das Ende vermeintlich unsterblicher Lieben. Blog-Lesen war ein bisschen wie Urlaubs-Dias von Leuten gucken, die man nicht kannte. Die meisten Blogs dieser Zeit waren peinliche Nabelschauen oder schlicht langweilig.
Da müsste man doch mehr draus machen können, dachte ich. Aber eine Idee hatte ich nicht. Die hatten glücklicherweise andere, und nach und nach entstand die vielfältige Blogosphäre, die wir heute kennen. Mir aber fehlte weiterhin jede Vorstellung, was ausgerechnet ich der Welt da draußen Interessantes zu erzählen hätte…
Bloggen im Betrieb: ein Experiment bei Weltbild
Das änderte sich erst knapp zehn Jahre später, als wir bei einem Gewerkschaftstreffen über neue Kommunikationswege diskutierten. Durch gleitende Arbeitszeiten, versetzte Pausen und räumliche Aufspaltung werden die klassischen Kommunikationspunkte im Betrieb immer weniger. Den Betriebsräten fällt es oft schwer, mit Beschäftigten aus der IT oder dem Marketing ins Gespräch zu kommen, die in Einzelbüros am Bildschirm arbeiten. Vielleicht, dachten wir, ist ein Blog im Internet für diese KollegInnen ja näher dran als das Betriebsratsbüro im Nachbargebäude.
Mit dem Weltbild-ver.di-Blog wagten wir im Frühjahr 2009 einen ersten Versuch. Ich schulte eine kleine Gruppe Gewerkschafts-Aktiver und wir gründeten eine Blogredaktion, deren Mitglieder bis heute aus naheliegenden Gründen nur anonym agieren. Mit Visitenkärtchen, die wir in Kaffeeküchen und bei den Drucker-Inseln fallen ließen, machten wir Werbung für unser Experiment.
Innerhalb weniger Wochen war das Blog im Betrieb bekannt. Die Berichte darin sorgten für Gesprächsstoff, manchmal für Sprengstoff, oft auch für Ärger auf Seiten der Geschäftsführung. Aber einmal in der Welt, war es nicht mehr totzukriegen und ist seither die wichtigste Informationsquelle innerhalb des Betriebes und darüber hinaus.
Denn neben den Beschäftigten lesen auch JournalistInnen regelmäßig mit, was die GewerkschafterInnen aus ihrem Betrieb berichten. Authentischer und näher dran geht es nicht. Augsburger Allgemeine, Süddeutsche Zeitung, Bayerischer Rundfunk, Buchreport, Börsenblatt, Frankfurter Rundschau und viele andere Zeitungen und Zeitschriften berichten regelmäßig über Weltbild und stellen die Lage auch aus Arbeitnehmer-Sicht dar. Die meisten dieser Beiträge sind von unserem Blog inspiriert.
Eins, zwei, drei ganz viele ver.di-Blogs
Der große Erfolg des Weltbild-ver.di-Blogs machte in Gewerkschaftskreisen schnell die Runde. Immer öfter klopften Gewerkschafts-Sekretäre bei mir an und baten um Vorträge auf Konferenzen oder Schulungen von Betriebsgruppen. Schon im Folgejahr erblickten etliche weitere Betriebs-Blogs das Licht des Internets. Bei Dehner, Obi, Hugendubel, der Caritas, dem C.H.Beck-Verlag und in vielen weiteren Firmen schaffen gewerkschaftliche Blogs seither eine Gegenöffentlichkeit.
Zählt man die Seitenaufrufe der zwölf ältesten ver.di-Blogs zusammen, kommt man heute auf eine Zahl von über sechs Millionen. Es handelt sich längst um ein bundesweites Phänomen und die gewerkschaftliche Blogger-Szene wächst weiter. Das Weltbild-ver.di-Blog ist heute nur eins unter vielen, vielen anderen. Aber wir Augsburger BloggerInnen dürfen stolz darauf hinweisen, dass nach dem Arbeiter-Dichter Bert Brecht auch das Gewerkschafts-Blog am Lech geboren wurde. Das ist kein Unsinn.